99 Jahre danach: Kampf um Anerkennung

Ein Artikel über unser Komitee und den armenischen Völkermord!
An article about our committee and the Armenian Genocide!

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24. April 2014 von Hülya Tektas

Heute gedenken Armenier weltweit ihrer vor 99 Jahren getöteten Landsmänner.

Beide bestellen Limonade. Können süße Getränke den bitteren Nachgeschmack der traurigen Ereignisse neutralisieren? Wohl kaum. Sie erzählen die Geschichten ihrer Urgroßeltern und trinken dabei langsam und vorsichtig mit dem Strohhalm aus den Gläsern, während es draußen in Strömen regnet.

Eines Tages klopfte jemand bei der Familie Derhagopian im Libanon an die Haustür. Es war ein Türke. Er muss sehr lang recherchiert haben, um die Spuren der 1915 aus Adana vertriebenen Familie zu finden. Urgroßvater Derhagopian, der Priester von Adana, überlebte die Deportation und die darauffolgenden schlimmsten Tage in der Wüste nähe Aleppo mühsam. Später gelang es ihm, in den Libanon weiterzureisen. Der besagte Türke wohnte in dem der Familie Derhagopian enteigneten Haus. Er brachte jedoch weder persönliche Gegenstände der Familie mit noch war er an deren leidvoller Geschichte interessiert. „Er wollte lediglich wissen, ob irgendwelche Schätze irgendwo am Grundstück versteckt seien“, erzählt Serge Derhagopian. Dem im Libanon aufgewachsenen Informatiker wurde von seiner Familie auch die Dankbarkeit gegenüber dem syrischen Volk weitergegeben. Als die Armenier in den Wüsten Aleppos eintrafen, haben christliche und muslimische Syrer gemeinsam Hilfe geleistet. In der Zeit, als große Armut herrschte, teilten sie mit ihnen, was sie hatten. „Die Todesmärsche und Völkermord waren also keineswegs religiöses motiviert, sondern ein rassistischer Akt seitens der Osmanen“, betont Serge Derhagopian. Heute arbeitet er gemeinsam mit Garo Chadoian daran, dass Österreich den Genozid an den Armeniern von 1915 anerkennt. Chadoian und Derhagopian sind die Vorstände vom Österreichisch-Armenischen Komitee für Gerechtigkeit und Demokratie.

Für Chadoian, dessen Eltern ebenfalls aus aus Syrien kommen, ist es schwer nachvollziehbar, dass Österreich bei der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern derart zögert. „Schließlich hat Österreich in seiner Geschichte Ähnliches durchgemacht und den Holocaust verarbeitet“, meint Chadoian. Für ihn ist jedoch klar, dass die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Österreichs zur Türkei einen wichtigen Grund dafür darstellen.

Garo Chadoians Urgroßvater lebte damals mit seiner Frau und den drei Kindern in seiner Heimatstadt Sason, eine Stadt im Osten der Türkei. Als die Todesmärsche begannen, war der Händler jedoch in Syrien. Unter den in Strömen aus der Türkei nach Aleppo deportierten Armeniern fand er seine Familie aber nicht. Erst sehr viele Jahre später erfuhr er, dass auch seine Söhne den Völkermord überlebt hatten. Gesehen hat er sie allerdings nie wieder.

Seine Beziehung zu den in Österreich lebenden Türken beschreibt Chadoian als normal. Über den Genozid wird jedoch so gut wie nie gesprochen. „Auch sie tragen keine Schuld, da dieses Thema in der heutigen Türkei noch nicht verarbeitet wurde.“

Das bestätigt auch die Türkin Gül Ayse Basari. Basari, die erst nach ihrem Studium nach Österreich kam, beschwert sich über das türkische Schulsystem. So wurde der Genozid niemals im Geschichtsunterricht behandelt. „Im Gegenteil: Er wurde verleugnet und es wurde sogar behauptet, dass die Armenier die Türken umgebracht hätten“, erzählt Basari. Sie selbst interessierte sich im Alter von 15 Jahren für alternative Bücher, Ideen und politische Ansichten und erfuhr vom Völkermord an den Armeniern. Erstaunt über die Widersprüche zu den Angaben offizieller türkischer Geschichtsschreiber wurde die Gymnasiastin von ihrer Mutter, eine geborene Istanbulerin, über die leidvollen und blutigen Massaker an vielen Völkern Anatoliens aufgeklärt. Fortan wurde sie wegen ihrer alternativen Sichtweise von patriotischen Türken als Landesverräterin beschimpft. „Manche Wunden heilen nie“, meint Basari und fügt hinzu: „Diese Wunden heilen nur durch den Zerfall des bestehenden Staatssystems in der Türkei, das den Genozid leugnet.“

Aghet

Als Aghet – das armenische Wort für Katastrophe – bezeichnen die Armenier das, was 1915 passierte. Verschiedenen Schätzungen zufolge sind zwischen 1915 und 1916 bis zu 1,5 Millionen Armenier den Massakern und den darauffolgenden Todesmärschen zum Opfer gefallen. Die Überlebenden flüchteten in die Diaspora. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten etwa 2,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich. Die Anzahl der heute in diesem Gebiet lebenden Armenier beträgt schätzungsweise 60.000.

Mehr als 20 Staaten weltweit erkennen den Genozid an den Armeniern als Völkermord gemäß der UNO-Völkermordkonvention von 1948 an, wobei Österreich nicht zu diesen Staaten zählt. In der Türkei gilt dieses Thema als höchst empfindlich, der Genozid wird bestritten. In einer von Premierminister Erdogan gestern veröffentlichen Erklärung zeigte sich der türkische Staat zum ersten Mal versöhnlich mit den Armeniern. Erdogan forderte den Dialog und sprach den Enkeln der 1915 getöteten Armenier sein Beileid aus. Der Völkermord selbst wurde allerdings nicht angesprochen.

Die Gläser sind leer und draußen regnet es nicht mehr. Es gibt noch viele nicht erzählte Geschichten über Millionen armenischer Opfer von vor 99 Jahren.